Venezia 2016, Canaletto für Arme, oder „wenn die Postkarten schon kitschig sind, dann wenigstens selbstgemalt
26 Grad C leuchtet es auf dem Display in Orange. Das Display ist genau genommen ein multifunktionales Touchpad der Raumheizung, es ist 5 Uhr morgens und ich stehe benommen in Reichweite. Ich versuche den verdammten Regler runterzustreicheln. Ca. 2 Stunden lang habe ich mit trockenem Hals im Halbschlaf mit mir gerungen, ob ich aufstehen soll und die Heizung drossele, oder ob ich es noch aushalte. Es war von Anfang an klar, dass ich verlieren werde. Ich öffne mehrere Fenster und lege mich unter ein Laken, bestimmt schlafe ich nicht wieder ein… als ich aufwache schlägt die Kirchturmuhr 7x mal.
Der heutige Tag soll klar und perfekt werden, so steht es zumindest auf dem anderen Display, meinem Handy. Da gestern noch die Pest durch unsere Reihen tobte und ich mich am Abend, wohl mehr aus Solidarität als aus medizinisch belastbaren Gründen, auch schummerig gefühlt habe, wollte ich eigentlich nicht Laufen gehen.
Ich schäle mich aus dem Bett, sehe den Himmel schon leicht gelb eingefärbt und beschließe wenigstens zum Bäcker zu Spazieren. Meine Frau wird von mir wach. Meine Entschlüsse mutieren unterdessen gänzlich selbstständig weiter vor sich hin. Ich murmele zu ihr, ohne wirklich selbst zu denken „ gehe mal eine kleine Runde um St. Elena laufen“. Als ich den Herzgurt anschnalle (den ich mal wieder nicht gepairt habe) will mein Unterbewusstsein schon etwas mehr als St. Elena laufen. Ich ziehe die roten Schuhe an und weiss jetzt, dass ich wenigstens mal bis ans Nordufer rennen will.
Ich erreiche das Nordufer, gleich geht die Sonne auf, vor mir liegt vollkommen klar, bis ins kleinste Detail sichtbar, die Alpenkette in gelbem Weiss. Man kann die Alpen bis Slowenien sehen, mir klappt der Mund auf, sogar einzelne Täler sind zu erkennen. Es erstaunt mich etwas, aber wie von selbst will ich jetzt doch eine größere Runde rennen… man könnte ja einfach auf das Solofrühstück verzichten und würde so wieder etwas Zeit herausholen…
Ich laufe sehr herzschonend im Dandytempo durch satte warme Duftwolken der Bäckereien Richtung Bahnhofsgebiet. Die Pace beginnt zu stocken, immer wieder muss ich mich vorsichtig an Müttern mit Micky Mäusen an der Hand, oder jungen Batmännern vorbeidrücken. Captain Sparrow in 130 cm Höhe trottet zur Schule. Unten in den Gassen der Stadt herrscht noch dämmeriges Blau, oben leuchten die Kirchturmspitzen schon in der Sonne. Ich drehe zum Südufer ab und stehe im gleissenden Licht eines gestochen scharfen Tages. Ich ducke mich unter zwei Selfiestangen hindurch und nähere mich dem Marcusplatz. Es ist gestrichen voll, wie Ameisen wimmeln Männer mit halbmeterlangen Objektiven durcheinander und fotografieren kommerzielle Karnevalposer und -posereinnen. Die Männer gucken professionell, mit aufgeregten Gesichtern, als hätten sie soeben die seltenen norwegischen Birkenmeise im ersten Sonnenlicht entdeckt und könnten der Menschheit die erste Aufnahme dieses seltenen Motives liefern. Ich ernte böse Blicke, weil ich mich als Jogger zwischen ihnen durchzwänge. Die Karnevalposer lehnen wie zufällig im bogenförmigen Schatten der Arkaden und werden ebenso zufällig von den Touristenscharen entdeckt. Man knipst und diskutiert, „dreh Dich mal nach links, heb mal den Arm“…. Ich fühle mich wie im Faschingspuff und renne in eine Japanerin, die mit ihrer Selfiestange flirtet. Mist.
Dafür komme ich heute in meiner Bäckerei nicht eine Minute zu früh, die Fritelle kommen gerade heiss aus dem Ofen (ich habe mich inzwischen entschlossen doch etwas zu frühstücken, „einen Café wird man ja wohl noch dürfen…“). Der Zucker rieselt auf meine Finger, die Pinienkerne glänzen, weil sie heiss sind, der Café wirft schöne Schlieren.
Daheim öffnet man mir die Tür, ich blicke in feine Schlitze die später am Tag zu hübschen Augen werden sollen. Man ist gerade aufgewacht und hat gute Laune. Alle Bewohner der familiären Höhle sind, den ersten Berichten zufolge, wieder gesund. Es entsteht aktives Duschgerangel, danach wird zügig aufgebrochen.
Der heutige Tag steht im Zeichen von strahlendem Sonnenlicht und ausgedehnten Bootstouren, so ist der Plan und so kommt es auch. Am Bootssteg habe ich ein paar Minuten Zeit, um eine erste Skizze im Sonnenlicht zu versuchen. Meine Tochter steigt gleich aus und kehrt in die Bäckerei zurück, um mehr Wärme mitzunehmen.
Wir landen schliesslich in einem Boot, in dem man unmöglich umfallen kann, da offensichtlich die gesamte arbeitende Bevölkerung Norditaliens beschlossen hat diesen Vaporetto zu nutzen. Wir versuchen den Kindern die Palazzi am Kanal zu erläutern…
Unser Ziel ist die kleine Insel St. Giorgio und ihr gut gelegener Kirchturm. Von dort oben hat man einen umwerfenden Blick über die gesamte Lagune, ganz besonders heute. Um von dort oben zu Zeichnen brauche ich starke Nerven. Das Häusermeer ist beeindruckend, aber auch schwer zu lösen. Die Skizze gelingt und meine Laune ist gerettet. Die Guidecca wird von uns gemütlich abgelaufen. Es entsteht etwas Unruhe in dem Grüppchen, als die Mittagszeit naht, denn das Restaurant soll unbedingt in der Sonne liegen. Alle Läden sind jedoch nach Norden orientiert. Wir lösen das Problem, indem wir einen Tisch soweit aus dem Schatten der Häuser tragen, bis die Familie in der Sonne zu sitzen kommt. Ich verdrücke mich sogleich, um eine weitere Kitschpostkarte zu Zeichnen, während der Rest auf das Essen wartet.
Ein Schnellvaporetto bringt uns direkt nach Murano. In Murano steht die Kirche Sant Donato, in dieser befinden sich die hübschesten Marmormosaiken die ich kenne. Ornamente und wunderbar naive Tiermotive freuen den Besucher und zeugen von umverklemmter Lebensfreude.
Selbstverständlich haben wir auch brav einige Euros in den Glaskitschboutiquen liegen gelassen. In unserer Wohnung ist noch ein Nudelstop geplant, bevor wir uns in den nächtlichen Carnevale werfen.